Künstliche Intelligenz neu denken!

Lesedauer 3 Min.

Ein globales Protokoll für das Zeitalter nach der Schwelle

Autor: Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist
Geopolitical Economy & Geopolitical Science
Berlin im Juni 2025

Executive Summary

Wir befinden uns längst nicht mehr in der spekulativen Phase der künstlichen Intelligenz (KI). Wir leben bereits mit den ersten Folgen eines Systems, das nicht nur assistiert – sondern beeinflusst.

Was die Welt jetzt dringend braucht, ist keine weitere Beschleunigung, sondern ein Ordnungsrahmen. Keine Revolution im Code – sondern eine Revolution in der Steuerung.

Dieser Beitrag schlägt ein globales Protokoll vor, das die Parameter für die Ära nach der Schwelle definiert: nach dem Punkt, an dem KI begann, gesellschaftlich formend zu wirken. Basierend auf realen Verzerrungen, regulatorischen Defiziten und intellektueller Fragmentierung ruft dieser Entwurf zu einer koordinierten Antwort auf – wissenschaftlich, ethisch, politisch.

I. Die Schwelle ist überschritten

Vom Werkzeug zum Akteur:
Künstliche Intelligenz ist längst vom Werkzeug zum semi-autonomen Akteur geworden. Auch ohne Allgemeine KI (AGI) beeinflussen Systeme heute Wahlen, soziale Normen, Märkte und institutionelle Entscheidungen. Schon die bloße Präsenz musterbildender Intelligenzen verändert die Struktur menschlichen Verhaltens.

Die Illusion der Kontrolle:
Die bestehenden Regulierungsrahmen sind fragmentiert (EU, USA), ideologisch gefärbt (China) oder von wirtschaftlichen Interessen durchzogen (privatwirtschaftliche Modelle). Die Kontrolle ist oftmals nur scheinbar – getragen von rückblickender Ethik und voreingenommener Transparenz.

Instabile Wissensordnungen:
KI-generiertes Wissen ist zunehmend mit den Echokammern der Daten verknüpft. Die Legitimität von „Wahrheit“ wird algorithmisch erzeugt – nicht mehr empirisch bestätigt. Die Gefahr besteht nicht darin, dass KI lügt – sondern dass sie Dialog durch Plausibilität ersetzt.

II.  Sechs globale Pfeiler für eine KI-Protokollisierung

  1. Kodifizierte Souveränitätsgrenzen
    • Kein KI-System darf nationale verfassungsrechtliche Parameter übergehen oder unterwandern.
    • Staaten müssen ein formales digitales Vetorecht gegenüber fremd trainierten Modellen erhalten, die die öffentliche Meinung im Inland beeinflussen.
  2. Strategische Transparenz & Algorithmische Signaturpflicht
    • Jeder KI-generierte Output muss eine unveränderbare Metadatenschicht enthalten, mit Angabe:
      • Ursprungsmodell
      • Zeitstempel
      • Entscheidungslogik (z. B. RLHF, probabilistisch)
      • Trainingsbias-Indikatoren
  3. AI-Governance-Index (AGI) für Staaten
    • Ein internationaler Index, der misst:
      • Grad der KI-Abhängigkeit staatlicher Entscheidungsprozesse
      • Institutionelle Schutzmechanismen
      • Ethische Robustheit
      • Resilienz gegenüber Manipulation und Drift
  4. Klausel zur geistigen Souveränität
    • Jede KI, die menschliche Gedanken verarbeitet, muss:
      • Quellkomplexität anerkennen (z. B. durch synthetische Zitationsstandards)
      • Nachvollziehbare Herkunftslinien von Ideen gewährleisten
  5. Obligatorische Mensch-Override-Protokolle
    • Kritische Systeme (Infrastruktur, Verteidigung, Gesundheit, Justiz) müssen:
      • Menschliche Letztentscheidungsinstanz erhalten
      • Klare Übersteuerungspunkte definieren
      • Regelmäßige Tests im Auditsystem durchlaufen
  6. Post-Wissens-Schutzmechanismen
    • KI-Training auf spekulativem, ideologischem oder emotional gefärbtem Material muss entsprechend markiert werden.
    • Faktengenerierende und gefühlsgenerierende Systeme müssen strukturell getrennt werden.
    • Kennzeichnung von „wahrscheinlichkeitsbasierter Wahrheit“ versus „verifiziertem Wissen“ ist zwingend erforderlich.

III.  Der Fahrplan: Vom intellektuellen Alarm zur institutionellen Realität (2025–2028)

  • Q3 2025: Einrichtung einer Taskforce mit 50 interdisziplinären Expert:innen aus Rechtswissenschaft, Informatik, Ethik, Diplomatie und Erkenntnistheorie. Gehostet auf neutraler digitaler Plattform.
  • Q4 2025: Erste globale Versammlung zur Post-Schwellen-KI in Genf mit Akteuren aus Regierungen, Forschung, Zivilgesellschaft und strategischen KI-Laboren.
  • 2026: Veröffentlichung der „Charta zur KI nach der Schwelle“ – ein Basiskodex mit freiwilligen Beitrittsklauseln und Druckmechanismen nach Vorbild der FATF- oder OECD-Standards.
  • 2027–28: Einbettung der KI-Protokollisierung in Handelsverträge, Sicherheitsabkommen und ethische Standards der Forschung. Zielräume: WTO+, G20+, BRICS+.

Schlussfolgerung: Nicht die KI ist die Bedrohung – sondern ihr Missbrauch

Künstliche Intelligenz ist kein Feind menschlicher Vernunft. Aber ohne Rahmen erodiert Vernunft. Wird KI nicht strategisch eingefasst, riskieren wir nicht nur technologische Dominanz – sondern die Aushöhlung unserer Erkenntnissysteme.

Eine Zivilisation, die es unterlässt, ihre eigenen Grenzen zu kodifizieren, wird von ihren eigenen Werkzeugen absorbiert.

Jetzt ist die Zeit zu handeln – nicht aus Angst, sondern mit der Präzision globaler Intelligenz.

Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist

Anhang: Kernquellen (Auswahl mit Links)

  1. Bostrom, Nick. Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies. Oxford University Press, 2014

  2. Crawford, Kate. Atlas of AI. Yale University Press, 2021

  3. Brundage et al. “The Malicious Use of Artificial Intelligence.” PDF, 2018

  4. EU-Kommission. “AI Act Proposal.” April 2021

  5. Harvard Belfer Center. “The AI Governance Challenge.” 2023

  6. OpenAI. “GPT-4 Technical Report.” März 2023

  7. World Economic Forum. “Global AI Governance Framework.” 2022

  8. UNICRI & INTERPOL. “AI and Robotics for Law Enforcement.” 2021

  9. IEEE. “Ethically Aligned Design.” 2nd Ed., 2019

  10. Marr, Bernard. “The Key Challenges Of Regulating AI.” Forbes, 2024

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