Ukraine 2025 – Zwischen Verhärtung und Verhandlung

Lesedauer 4 Min.

Wie eine multipolare Friedensordnung gelingen kann!

Autor: Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist
Berlin, im Mai 2025

Einleitung: Die Rückkehr der Möglichkeit

Drei Jahre Krieg. Zehntausende Tote. Millionen Vertriebene. Eine strategisch paralysierte EU. Und doch: Im Frühjahr 2025 zeichnet sich ein geopolitisches Fenster ab – eines, das schon 2022 offenstand, dann durch westliche Eskalationslogik geschlossen wurde, und nun unter völlig veränderten globalen Bedingungen wieder aufgeht.

Die aktuelle Bereitschaft zur Wiederaufnahme von Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine – unter Vermittlung der Türkei – ist mehr als nur ein diplomatisches Symbol. Es ist ein realpolitischer Kipppunkt.

Doch um ihn zu nutzen, reicht keine Rückkehr zu alten Verhandlungsritualen. Es braucht ein strategisches Neudenken.

Die bisherigen Vorschläge – etwa Neutralität der Ukraine, Sicherheitsgarantien und wirtschaftliche Wiederaufbauhilfe – müssen in ein erweitertes, multipolares Ordnungskonzept eingebettet werden, das realistisch, wirksam und zukunftsfähig ist.

Der Ausgangspunkt: Zwei Jahre blockierte Diplomatie – und eine sich wandelnde Weltordnung

Die Verhandlungen von Istanbul 2022 kamen nahe an eine Einigung – bevor sie von Akteuren torpediert wurden, deren Interessen nicht primär ukrainisch waren. Seither hat sich die geopolitische Architektur verschoben:

  • Die USA stehen innenpolitisch unter Druck, ihre globale Kriegsfinanzierung neu zu bewerten – nicht zuletzt durch den beginnenden Präsidentschaftswahlkampf.
  • Die EU ist wirtschaftlich geschwächt, gesellschaftlich gespalten und sicherheitspolitisch zunehmend reaktiv.
  • Russland kontrolliert weiterhin signifikante Teile der Ost- und Südukraine – und hat seine strategische Resilienz durch BRICS+, Golddeckung und Schattenlogistik erheblich gesteigert.
  • Die Ukraine ist kriegsmüde, zerstört, finanziell abhängig – und strategisch eingekesselt zwischen Selenskyjs öffentlicher Eskalationsrhetorik und wachsendem Druck zur Verhandlungsbereitschaft.
  • China, Indien, Türkei, Saudi-Arabien – sie alle drängen indirekt auf Stabilität, ohne selbst Kriegspartei zu sein.

Mit US-Präsident Trump kehrte eine kalkulierte, transaktionale Außenpolitik auf Basis einer nüchternen Kosten-Nutzen-Kalkulation zurück.

Trumps Linie ist klar: Kein Blankoscheck für Kiew, keine offene Dauerfinanzierung, keine strategische Eskalation mit Russland, die amerikanische Interessen gefährdet.

Verhandlungen werden nicht moralisch bewertet, sondern bilanziell gewichtet – und genau hier entsteht ein neues geopolitisches Spielfeld: Trump könnte ein Dealmaker werden, wenn Europa bereit ist, sich aus seiner emotionalen Geiselhaft zu lösen.

Zugleich gilt:
D. Trump ist kein Freund multilateraler Komplexität.
Ihm genügt ein klarer, belastbarer Deal – idealerweise direkt mit Moskau.

Europäische Akteure tun gut daran, diese Dynamik frühzeitig zu nutzen und eigene Formate zu setzen, bevor Washington bilaterale Fakten schafft.

Für eine realistische Friedenslösung bedeutet das: Der Weg über Istanbul ist offen – aber das Zeitfenster wird nicht ewig bestehen.

Wer die neue Verhandlungslogik nicht versteht, wird vom Taktgeber Washington überholt.

Strategische Fehleinschätzungen: Die Kurzsichtigkeit der Willigen

In meinem Artikel „Die Kurzsichtigkeit der Willigen“ vom 11. Mai 2025 (https://thomas-h-stuetz.eu/die-kurzsichtigkeit-der-willigen/) analysierte ich die anhaltenden Tendenzen westlicher Staaten, insbesondere der EU, immer wieder kurzfristige politische Interessen über langfristige strategische Überlegungen zu stellen.

Diese bisherigen politischen Haltungen manifestierten sich in der Unterstützung von Maßnahmen, die populär erscheinen mögen, jedoch die gesamte Komplexität des Ukrainekonflikts verkannt haben und somit nachhaltige Friedenslösungen erschwerten.

Die Bereitschaft, sich auf symbolische Handlungen zu konzentrieren, anstatt strukturelle Veränderungen zu fördern, zeigt im Ablauf und bis heute eine gefährliche Ignoranz gegenüber den notwendigen, tiefgreifenden geopolitischen Dynamiken.

Diese vorherrschende falsche Herangehensweise in der gesamten Angelegenheit gefährdete nicht nur die Stabilität der Region, sondern untergräbt auch massiv die Glaubwürdigkeit der westlichen Diplomatie.

Wenn man einen realen Frieden erreichen möchte, ist es unabdingbar, über kurzsichtige politische definierte Gewinne hinauszublicken und eine umfassende, damit eine realistische Strategie zu entwickeln, welche im Ergebnis die Interessen aller beteiligten Parteien berücksichtigt.

Der strategische Kern: Elemente einer gangbaren Lösung

A: Neutralität plus strategisch garantierte Souveränität

Die Ukraine bleibt militärisch neutral – verzichtet formal auf einen NATO-Beitritt –, erhält aber multilaterale Sicherheitsgarantien auf UN-Ebene mit Beobachterstatus von China, der Türkei, Deutschland, Brasilien und Indien. Keine einseitigen westlichen Schutzmächte mehr.

B: De-facto-Anerkennung des Status quo – ohne politische Legitimierung

Die von Russland kontrollierten Gebiete bleiben de facto unter russischer Verwaltung – jedoch ohne internationale de jure-Anerkennung. Dies entspricht der Taiwan-Lösung: ein eingefrorener Status, ohne ihn als endgültig anzuerkennen. Beide Seiten wahren damit Gesicht.

C: Internationale Kooperationsmodelle für strategische Rohstoffe

Die Ukraine erhält den Status eines Rohstoff-Entflechtungsgebiets unter Beobachtung neutraler Instanzen (z. B. UNIDO, IAEA für Nuklearstoffe, FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) für Agrargüter, WTO-Rahmen für Exportrechte).

Bestehende Verträge mit internationalen Konzernen werden transparenzpflichtig gemacht und auf multilaterale Investitionsmodelle überprüft, um die Abhängigkeit von Einzelstaaten zu reduzieren.

Ziel ist nicht Enteignung – sondern eine geordnete, multipolare Teilhabe, die sowohl amerikanische, europäische als auch asiatische Akteure einbindet.

Eine Ukrainian Strategic Resources Board (USRB) mit Vetorechten für neutrale Beobachter garantiert die Gleichgewichtsstruktur.

So wird der Wiederaufbau wirtschaftlich möglich – ohne neue geopolitische Abhängigkeiten zu erzeugen.

D: Sicherheitsarchitektur für den Ostseeraum und Schwarzmeer-Korridore

Ein neuer, multipolarer „Istanbul-Korridorvertrag“ garantiert freie Schifffahrt im Schwarzen Meer, Infrastruktur-Schutz und Sperrzonen für NATO- wie CSTO-Einheiten (Collective Security Treaty Organization, kurz OVKS in Russisch). Das verhindert maritime Eskalation.

E: Wiederaufbau nicht als Hilfsprojekt, sondern als geopolitische Reinvestition

Ein koordinierter Investitionsfonds unter Beteiligung von BRICS+, G7 und neutralen Staaten (z. B. Türkei, VAE) strukturiert den Wiederaufbau.

Zugang erhalten nur Unternehmen, die sich zur Einhaltung eines geopolitischen Ethik-Kodex bekennen: keine Waffenverkäufe, keine politischen Bedingungen, volle Transparenz.

Die Rolle Europas: Vom Transmissionsriemen zur Mittelmacht

Europa hat 2022 seine strategische Chance verspielt – und stattdessen den Krieg durch Symbolpolitik verlängert. 2025 steht es erneut vor der Wahl: entweder den USA nachzueifern oder die Rolle einer souveränen Mittelmacht einzunehmen.

Was es dazu benötigt:

  • Ein Sonderbeauftragter für Friedensstabilität, der direkt dem Europäischen Rat untersteht – nicht den Außenministerien der Mitgliedsstaaten.
  • Ein europäisches Friedensmandat, das sich nicht auf Militärlogik, sondern auf Energiesicherheit, Handelswege und Stabilitätsinteressen stützt.
  • Ein strategisches Schweigen gegenüber ideologischen Spaltungsfragen (z. B. Schuldfrage, moralische Bewertung) – und Fokus auf Strukturlösungen.

Fazit: Frieden braucht Architektur, nicht Appelle

Ein nachhaltiger Frieden ist kein moralischer Akt, sondern ein strategischer Entwurf. Wer ihn gestalten will, muss die multipolare Realität anerkennen – statt sie zu moralisieren.

Die Ansätze, die bereits 2022 auf dem Tisch lagen, sind heute relevanter denn je. Doch sie müssen erweitert, abgesichert und intelligent eingebettet werden.

Die Frage ist nicht mehr, ob es eine Lösung geben kann.

Die Frage ist: Wer hat den Mut, sie zu entwerfen – bevor andere die Fakten schaffen?

Thomas H. Stütz

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