Europa im Übergang

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Die Entführung Europas – Gemälde von Jean-François de Troy (1679-1752), National Gallery of Art, Washington. ©CommonsWikimedia.

Europa im Übergang

Vom Zivilisationsversprechen zur strategischen Selbstbehauptung. Warum die geopolitische und kulturelle Erschütterung Europas nicht das Ende, sondern den Beginn einer neuen Verantwortungskultur markieren muss. Europas Erschütterung ist kein Unfall, sondern Folge einer strategischen Unterlassung.

Thomas H. Stütz | Kommentar, Libratus Magazin, Wien |
04. Juli 2025 

Europa steht an einem Kipppunkt. Doch der gegenwärtige Zustand ist nicht das Resultat äußerer Überwältigung – sondern einer inneren Preisgabe. Der Westen, einst vom Versprechen auf Fortschritt, Frieden und Humanität getragen, hat dieses Versprechen nicht gebrochen – er hat es entwertet, indem er es entpolitisiert hat.

Während sich weltweit neue Machtmodelle formieren, verliert Europa seine strategische Sprache – und mit ihr seine Fähigkeit zur Orientierung. Das Ergebnis: Unsicherheit im Inneren, Unglaubwürdigkeit nach außen.

Der Mythos der Post-Geschichte – Europas selbst gewählte Blindheit

Historischer Trugschluss

Die europäische Nachkriegsordnung gründete auf einem historischen Trugschluss: der Vorstellung, Geschichte könne überwunden werden. Der Glaube, wirtschaftliche Verflechtung würde geopolitische Verantwortung ersetzen, war bequem – und letztlich gefährlich. Er führte zur Externalisierung von Souveränität, zur Übertragung sicherheitspolitischer Verantwortung auf Dritte – und zur Illusion, Macht lasse sich durch Moral zähmen.

Während Russland längst strategische Rückgriffe auf imperiale Räume vollzieht, China ein globales Infrastrukturimperium aufbaut und selbst kleinere Akteure wie Katar oder die Türkei aktiv regionale Ordnungen mitgestalten, hat Europa auf Konsens, Verfahren und Narrative gesetzt – oft zum Preis strategischer Wirkungslosigkeit.

Diese Haltung – kultiviert in Brüssel, Berlin und darüber hinaus – hat Europa geistig entwaffnet. Die neue Weltordnung aber folgt keiner Wertepädagogik, sondern dem Primat harter Interessen, realer Machtprojektion und kulturell verankerter Führungsmodelle.

Europäisches Vakuum

Die neue Tektonik der Macht – und das europäische Vakuum: Die globale Ordnung ist nicht mehr westlich. Russland, China, Iran, Indien und Brasilien denken in Jahrzehnten, nicht in Legislaturperioden. Ihre Zielgerichtetheit steht in scharfem Kontrast zu Europas Reaktionsmodus.

Die USA – unter Trump, aber nicht nur – haben sich strategisch entkoppelt und die Sicherheitsgarantie europäischer Ordnung entwertet. Doch anstatt dies zum Ausgangspunkt für eine neue Eigenständigkeit zu machen, hat Europa begonnen, sich selbst zu verwalten: mit Symbolpolitik, PR-Sprache und regelmäßig beschworenen „Zeitenwenden“, die sich selten in tatsächlicher Handlungstiefe niederschlagen.

Die EU leidet nicht an Informationsmangel – sondern an einem Mangel an Entschlossenheit. Die geopolitischen Realitäten sind offenkundig. Es fehlt an Klarheit, Kraft und Konsequenz.

Vertrauensverlust und systemische Führungsfrage

Ein entscheidender Teil des Problems liegt tiefer: in der mentalen Entkopplung der politischen Klasse von strategischer Realität. Während Sicherheitsdienste, Wirtschaftsakteure und internationale Beobachter seit Jahren vor systemischer Destabilisierung warnen, reagieren weite Teile der Politik mit moralisierter Rhetorik, technokratischer Detailverliebtheit oder der Flucht in gesichtslose Prozesse.

So wird Führung mit Verwaltung verwechselt – und Haltung mit Kommunikation. Doch geopolitische Verantwortung verlangt mehr: die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen, Interessen klar zu benennen und – wo nötig – auch gegen Widerstände zu handeln.

Europas unvollendete Reifeprüfung

Der europäische Integrationsprozess war stets ein politisches Versprechen – aber selten ein strategischer Anspruch. Von der Gründung der Montanunion über die westliche Einbindung in die NATO bis hin zur EU-Osterweiterung vollzog sich Europas Aufstieg hauptsächlich im Windschatten amerikanischer Garantiepolitik.

Erst im Kosovo-Konflikt, später in der Flüchtlingskrise und zuletzt im Umgang mit der Ukraine wurde offenbar, wie begrenzt Europas Fähigkeit zur kollektiven strategischen Führung ist. Die wirtschaftliche Macht ist vorhanden – die politische Konsequenz blieb oft aus. Genau hier liegt der wunde Punkt.

Von der Analyse zur Haltung

Verantwortung ist kein dekorativer Begriff der Politrhetorik. Sie ist ein strategischer Imperativ. Sie verlangt, Macht zu übernehmen, Entscheidungen zu tragen – auch unter Risiko. Was Europa fehlt, ist nicht Wissen – sondern Wille.

Es braucht eine neue Selbstbehauptung, die sich auf das kulturelle Erbe, die wirtschaftliche Stärke und die sicherheitspolitische Notwendigkeit gleichermaßen stützt. Nicht Symbolik, sondern Substanz. Nicht Rhetorik, sondern Führung.

Denn wer geopolitisch bestehen will, muss Konflikte nicht suchen – aber er muss geistig, strukturell und operativ auf sie vorbereitet sein. Und das beginnt mit Sprache – einer Sprache, die die Welt benennt, wie sie ist – nicht wie sie sein soll.

Ausblick: neue Ordnungen

Weltweit entstehen alternative Ordnungsmuster: Die BRICS-Staaten formieren eine neue geoökonomische Achse, während Afrika sich zunehmend aus kolonialen Abhängigkeiten löst. In Asien wachsen regionale Sicherheitsarchitekturen jenseits westlicher Einflusslogik.

Europa muss lernen, nicht nur auf diese Entwicklungen zu reagieren – sondern daraus eigene Strategien zu entwickeln: partnerschaftlich, aber nicht naiv; wertebasiert, aber handlungsfähig; global denkend, aber mit klarem Eigeninteresse. Der neue Multilateralismus ist nicht harmonisch – sondern wettbewerblich. Wer nicht mitgestaltet, wird gestaltet.

Europa muss wieder Raum der Entscheidung werden.

Diese Zeit der Krise ist nicht bloß Bedrohung – sie ist eine Einladung zur Erneuerung. Europa steht nicht am Ende – sondern an der Schwelle zu einem neuen Selbstverständnis. Doch dieser Übergang ist kein Automatismus. Er verlangt bewusste Führung.

Die zentrale Frage lautet: Will Europa Subjekt der Geschichte bleiben – oder zum Objekt globaler Dynamiken werden?

Die Antwort auf diese Frage entscheidet nicht nur über den inneren Zustand Europas – sie bestimmt die Rolle des Westens im 21. Jahrhundert. Es ist Zeit, das Zivilisationsversprechen Europas neu zu füllen – nicht durch Rückzug, sondern durch strategische Selbstbehauptung.

Wer diese Verantwortung auf sich nimmt, formuliert nicht nur eine politische Position – er trägt zur Sicherung der freien Welt bei.♦

Thomas H. Stütz
Gastautor bei Libratus, Wien

Thomas H. Stütz ist Chief Global Strategist bei SG International Affairs und Gründer der Stütz Gruppe. Weiters betätigt er sich als Journalist. Experte für nationale und geopolitsche Ökonomie und Politik. Seine Fachgebiete sind u.a. politische Risikoanalyse, Geostrategische Analyse, Systemisches Risikomanagement und Krisenvorbereitung.

 

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