Kritische Gesamtbewertung des Koalitionsvertrags 2025 zwischen CDU, CSU und SPD

Lesedauer 4 Min.

Autor: Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist
Berlin im April 2025

Inhaltsverzeichnis

1. Strategische Grundausrichtung – „Erneuerung“ unter Realitätsvorbehalt
2. Wirtschaft & Wachstum – ambitioniert in der Sprache, unzureichend in der Struktur
3. Soziales & Arbeitsmarkt – Ambivalenz zwischen Eigenverantwortung und Staatsdirigismus
4. Außen-, Sicherheits- und Europapolitik – formal solide, strategisch blass
5. Infrastruktur, Digitalisierung, Planungsbeschleunigung – Potenzial ohne Durchgriffskraft
6. Realismus-Check – das Mögliche wird über das Machbare gestellt
7. Multipolare Einordnung – ein blinder Fleck mit geopolitischer Sprengkraft

Einleitung

Der Koalitionsvertrag 2025 zwischen CDU, CSU und SPD tritt in einer Phase tiefgreifender globaler und innerstaatlicher Umbrüche in Kraft. Deutschland steht unter dem Druck eines geopolitisch neu geordneten Weltgefüges, eines beschleunigten technologischen Wandels, wachsender sozialer Spannungen und infrastruktureller Erschöpfung.

Der Vertrag beansprucht, diesen Herausforderungen mit einem umfassenden Modernisierungs- und Stabilitätsversprechen zu begegnen.

Doch wie tragfähig ist dieser Anspruch? Wie kohärent sind die politischen Leitlinien? Und genügt das Papier den Anforderungen einer multipolaren Weltordnung, in der Deutschland nicht mehr nur mit sich selbst beschäftigt sein darf?

Diese Analyse verfolgt das Ziel, den Koalitionsvertrag jenseits formaler Kapitelstrukturen entlang seiner strategischen Wirkungskategorien zu prüfen: Sie bewertet nicht nur Inhalte und Versprechen, sondern fragt nach Umsetzbarkeit, Realitätssinn und internationaler Anschlussfähigkeit.

Dabei wird deutlich:
Der Vertrag enthält gute Ansätze – doch die wahre Qualität politischer Führung zeigt sich nicht im Umfang der Maßnahmen, sondern in der Fähigkeit zur Priorisierung, zur strategischen Verzahnung und zur globalen Einbettung. Genau dort jedoch, offenbaren sich erhebliche Schwächen.

1. Strategische Grundausrichtung – „Erneuerung“ unter Realitätsvorbehalt

Der Koalitionsvertrag 2025 beginnt mit dem erklärten Ziel einer tiefgreifenden Erneuerung Deutschlands. Die Problemanalyse – wirtschaftliche Wachstumsschwäche, ein zunehmend fragiles Vertrauen in die staatliche Leistungsfähigkeit, demografischer Strukturwandel und geopolitische Risiken – ist sachlich, präzise und mutet realistisch an.

Doch in der strategischen Umsetzung zeigt sich ein gravierender Bruch: Anstelle eines klar priorisierten Handlungsrahmens stehen gleichwertig aneinandergereihte Versprechen – von sozialer Sicherheit über Digitalisierung bis zu militärischer Stärke.

Der Vertrag wirkt dadurch eher wie eine Sammlung gut gemeinter Absichtserklärungen, denn wie ein durchdeklinierter Masterplan.

Die Koalition verfehlt es, eine ressortübergreifende nationale Zukunftsarchitektur zu formulieren, die Deutschlands Kräftebündelung in Zeiten globaler Disruption strategisch leitet.

2. Wirtschaft & Wachstum – ambitioniert in der Sprache, unzureichend in der Struktur

Die wirtschaftspolitischen Aussagen zeigen Reformwillen und Innovationsfreude: Der Deutschlandfonds, die Start-up-Förderung, KI-Offensiven und Kapitalmarktthemen wie Solvency II werden adressiert.

Doch zentrale strukturelle Blockaden bleiben unbearbeitet: Der Mittelstand wird weiterhin durch hohe Lohnnebenkosten, eine steuerliche Überkomplexität und eine personell sowie technisch überforderte Verwaltung belastet. Förderinstrumente werden ausgeweitet, ohne ihre Wirkungstiefe strategisch zu sichern. Zudem fehlt eine konsequente steuerliche und regulatorische Entlastung jener Sektoren, die das Rückgrat der deutschen Realwirtschaft bilden.

Das proklamierte Ziel von über 1 % Potenzialwachstum bleibt Wunschdenken, solange nicht eine grundlegende Wachstumsarchitektur unternehmerischer, technologischer und institutioneller Art geschaffen wird.

3. Soziales & Arbeitsmarkt – Ambivalenz zwischen Eigenverantwortung und Staatsdirigismus

Die angekündigte Reform des Bürgergeldes hin zu mehr Eigenverantwortung und Leistungsorientierung ist ein überfälliger Schritt, ebenso wie die stärkere individuelle Betreuung von Erwerbsfähigen. Doch der geplante Mindestlohnanstieg auf 15 € bis 2026 – ohne differenzierte Lohnsystematik und unternehmerische Anpassungsspielräume – konterkariert die Zielsetzung eines lebendigen Arbeitsmarkts.

Gleichzeitig wird die Fachkräftefrage einseitig auf gesteuerte Migration verengt, während Investitionen in Ausbildung, duale Qualifizierung und die Reaktivierung inländischer Arbeitskraftpotenziale zu kurz kommen. Die Rentenzusage von 48 % bis 2031 erscheint ohne grundlegend neue Finanzarchitektur kaum haltbar. Es fehlt an einem ehrlichen Generationenvertrag, der Solidarität, Systemstabilität und realistische Beitragszusagen miteinander versöhnt.

4. Außen-, Sicherheits- und Europapolitik – formal solide, strategisch blass

Die sicherheitspolitischen Zielsetzungen – Verteidigungsfähigkeit, NATO-Festigkeit, strategische Autonomie – sind in der Tonalität angemessen und folgen dem Kurs westlicher Verbündeter. Doch es mangelt an operativer Präzision, etwa bei der Truppenstärkung, der Rüstungskooperation oder der Stärkung europäischer Verteidigungsindustrien.

Die Europapolitik bleibt programmatisch, ohne Deutschlands Rolle als integrative Führungsmacht klar zu definieren. Geopolitische Chancen – etwa im strategischen Umgang mit China, den neuen Allianzen im Globalen Süden oder der Positionierung Europas im multipolaren Weltgefüge – bleiben ungenutzt. Deutschland agiert außenpolitisch korrekt, aber nicht geopolitisch führungsfähig.

Der Vertrag verfehlt es, Deutschlands Rolle neu zu definieren: als Architekt von Stabilität in einer fragmentierten Welt.

5. Infrastruktur, Digitalisierung, Planungsbeschleunigung – Potenzial ohne Durchgriffskraft

Die infrastrukturellen Herausforderungen – von Schiene über Energie bis zur Verwaltung – werden erkannt und benannt. Auch digitale Reformen wie One-Stop-Verfahren, die Planungsbeschleunigung und Digitalisierungsinitiativen sind enthalten. Doch: Der Vertrag bleibt auf systemischer Ebene zu vage.

Es fehlt eine zentrale Durchsetzungsstruktur mit verbindlichen Meilensteinen, klarer Governance und rechtlicher Durchgriffskraft. Die Modernisierung droht erneut am föderalen Kompetenzwirrwarr zu scheitern.

Die Digitalisierung kann nur dann gelingen, wenn sie nicht additiv verwaltet, sondern zentral gesteuert und strukturell entgrenzt wird – aufbauend auf einer radikal reformierten Verwaltungsarchitektur.

6. Realismus-Check – das Mögliche wird über das Machbare gestellt

Die Koalition verspricht zugleich Investitionen, soziale Absicherung und solide Haushaltsführung. Doch das Zieltrio aus Infrastruktur, Verteidigungsausgaben und Transformation unter Beibehaltung der Schuldenbremse, ist haushaltstechnisch kaum vereinbar.

Es fehlt eine stringente Projekt Priorisierung – sowohl finanziell als auch in der Ressourcenkapazität von Verwaltung, Bauwirtschaft und Lieferketten. Vieles droht in der Umsetzung zu scheitern, nicht weil es falsch gedacht ist, sondern weil die Realbedingungen ignoriert werden: Personalmangel, Planungsstau, gesellschaftliche Ermüdung.

Der Vertrag muss sich fragen lassen, ob er ein realistisches Umsetzungsprogramm darstellt – oder eher ein gut formulierter Wunschkatalog ist.

7. Multipolare Einordnung – ein blinder Fleck mit geopolitischer Sprengkraft

Der Vertrag reflektiert kaum die tektonischen Verschiebungen der globalen Ordnung.

Der Aufstieg Chinas, die strategische Entkopplung der USA, die ressourcengestützte Machtprojektion Afrikas und das Entstehen paralleler Wirtschaftszonen werden nur am Rande erwähnt. Deutschland benötigt eine geoökonomische Strategie, die nicht nur Handelsbeziehungen schützt, sondern Rohstoffsicherheit, technologische Resilienz und strategische Einflusszonen definiert.

Eine solche Strategie fehlt vollständig. Deutschland kann seine wirtschaftliche Zukunft nicht sichern, wenn es die geopolitische Realität als nachgeordnet behandelt. Der Koalitionsvertrag bleibt damit ein Dokument innenpolitischer Selbstbeschäftigung in einer Welt, die längst außenpolitisch neu kartiert wird.

Fazit:

Der Koalitionsvertrag 2025 enthält eine Vielzahl durchdachter Einzelmaßnahmen – doch es fehlt der architektonische Überbau.

Ohne eine kohärente Gesamtstrategie, die ökonomische Leistungsfähigkeit, gesellschaftliche Resilienz und geopolitische Handlungsfähigkeit in Einklang bringt, bleibt er ein Dokument der Absicht statt der Zukunftsgestaltung.

Deutschlands Erneuerung erfordert nicht nur ein neues Programm – sie benötigt eine neue Führungslogik.

Vor diesem Hintergrund kommt der neuen Bundesregierung in den kommenden vier Jahren eine besonders gewichtige Verantwortung zu: Sie muss beweisen, dass politische Gestaltung nicht in Koalitionsformeln stecken bleiben darf, sondern sich an der Realität messen lassen muss – global, strukturell, gesellschaftlich.

Der Vertrag ist ein Startpunkt, kein Endpunkt.

Ob er als Übergangsdokument oder als echter Wendepunkt in die Geschichte eingeht, wird sich daran entscheiden, ob es gelingt, die strategischen Lücken zu schließen, operative Schlagkraft herzustellen und Deutschland in der multipolaren Welt glaubhaft neu zu positionieren.

Die bevorstehende Amtsperiode ist somit nicht nur eine Verwaltungszeit, sondern ein Möglichkeitsfenster: für mutige Strukturentscheidungen, für eine neue Form politischer Führung – und für ein souveränes Deutschland, das nicht nur auf Umbrüche reagiert, sondern Ordnung stiftet.>

Nur wer die Disruptionen der Gegenwart als strategische Ordnungschance versteht, wird die Zukunft souverän gestalten. Deutschland braucht einen Masterplan – nicht eine Maßnahmenliste.

Es braucht eine eloquente, und kompetente Führung – jedoch nicht Verwaltung. Und es braucht Mut zur Entscheidung – nicht Angst vor Verantwortung!

 

#Koalitionsvertrag2025 #DeutschlandZukunft #StrategischeAnalyse #MultipolareWelt #PolitikCheck #Regierungsprogramm #GlobaleOrdnung #Wirtschaftspolitik #Sicherheitsstrategie #Digitalisierung #Führungslogik #Geoökonomie #Mittelstand #Sozialpolitik #Außenpolitik #Planungsbeschleunigung #Transformation #Reformdruck #FührungstattVerwaltung

Schreibe einen Kommentar