Der Verlust des Ernstes

Lesedauer 4 Min.

– Wie unsere Gesellschaft ihre Tragfähigkeit verspielt – 

Vom Lachen im Falschen zum Verschwinden der Wirklichkeit: Warum eine Generation, die Verantwortung scheut, nicht nur sich selbst – sondern den politischen Raum gefährdet.

Einleitung – Ernst als Grundlage politischer Reife

Gesellschaften fallen nicht in sich zusammen, weil ihnen plötzlich etwas fehlt – sondern weil sie vergessen, was sie einst getragen haben. In Europa beobachten wir diesen Prozess seit Jahren: Die Erosion des Ernstes. Nicht als temporäre Erscheinung, sondern als strukturellen Verlust.

Wer das Leichte über das Wahre, das Spielerische über das Tragfähige, das Ironische über das Verpflichtende stellt, untergräbt nicht nur seine Kultur – sondern auch seine Fähigkeit zur Führung.

Ernst war nie ein Gegensatz zur Freiheit – er war ihre Voraussetzung. Denn nur wer das Wirkliche ernst nimmt, kann Verantwortung tragen. Eine Gesellschaft, die sich dieser Kategorie entwöhnt, verliert ihren inneren Halt – und mit ihm ihre politische Urteilskraft.

Vom Spielerischen zur Beliebigkeit – Die infantilisierte Öffentlichkeit

Der öffentliche Diskurs ist heute durchzogen von Spielmechanismen. Sprache wird performativ, Meinung zur Pose, Aufmerksamkeit zur Währung. In Talkshows zählt der Effekt, nicht das Argument. In sozialen Medien gilt nicht der Gedanke, sondern der Algorithmus.

Die Folge: Ernsthafte Themen werden ironisiert – und das Ironische wird zum neuen Ernst genommen.

Diese Umkehrung hat Folgen. Wenn Wirklichkeit zur Kulisse wird, verkommt das Politische zur Inszenierung. Es geht nicht mehr darum, was gesagt wird – sondern wie es wirkt. Die Konsequenz ist eine gesellschaftliche Verflachung, die Tiefe als Zumutung empfindet und Komplexität durch Empörung ersetzt.

In dieser Atmosphäre wird jede Form von Verantwortung zur Grenzüberschreitung. Wer fordert, wird als bedrohlich empfunden. Wer Klarheit einfordert als unzeitgemäß. Der Ernst des Wirklichen wird verdrängt – durch Haltungssimulation, ‚Virtue Signaling‘ und permanente Ablenkung.

Die Komik des Kontrollverlusts – Lachen als Flucht vor Verantwortung

In den westlichen Gesellschaften wird selbst das Tragische zunehmend in Unterhaltung überführt. Politische Fehlentscheidungen werden parodiert, institutionelles Versagen ironisiert, gesellschaftlicher Kontrollverlust mit satirischem Applaus quittiert.

Doch wer alles ins Lächerliche zieht, wird unfähig, es tragfähig zu machen. Das Lachen ersetzt die Handlung – und das Staunen die Analyse. So verkehrt sich das Komische ins Systemische: Wir lachen nicht mehr über das Absurde – sondern darüber, dass wir nichts ändern.

Diese Flucht in den Humor ist kein Zeichen von Stärke – sondern Ausdruck einer verdrängten Ohnmacht. Der Ernst ist nicht verschwunden – er wird nur noch vermieden.

Die Tragödie des Westens – Ohne Opfer, ohne Helden, ohne Verantwortung

Die westliche Kultur hat sich über Jahrhunderte durch eine tief in ihr verankerte Ernsthaftigkeit ausgezeichnet. Von der Tragödie der Antike über die Aufklärung bis zur Nachkriegsethik war klar: Freiheit ist nicht möglich ohne Pflicht, Fortschritt nicht ohne Erinnerung, Verantwortung nicht ohne Opfer.

Heute erleben wir das Gegenteil. Die Figur des Opfers wird instrumentalisiert, nicht verstanden. Die Idee des Helden wird belächelt oder dekonstruiert. Verantwortung gilt als autoritär, Tiefe als elitär.

So löst sich das kulturelle Fundament auf, das einst zur politischen Mündigkeit führte. Die Folge ist eine Gesellschaft der Fluchtpunkte – medial, emotional, ideologisch.

Was bleibt, ist eine narzisstisch überladene Selbstbezüglichkeit, die alles zur Bühne macht – und nichts mehr zur Sache. Wo keine Bindung an das Wirkliche mehr besteht, wird auch keine politische Form tragfähig.

Verantwortung als Zumutung – Der neue Anti-Ernst

Der neue Zeitgeist schützt sich vor Ernsthaftigkeit durch Vorwurf.

Wer Klarheit einfordert, gilt als rechthaberisch.
Wer auf Differenz besteht, ist spalterisch.
Wer auf Wahrheit pocht, ist radikal. Die Haltung wird verwechselt mit Härte – die Forderung mit Fanatismus.

Doch Demokratie lebt nicht vom harmonischen Einklang, sondern vom konfliktfähigen Ernst. Wer keine Widersprüche aushält, kann keine Entscheidungen treffen. Und wer Entscheidungen scheut, verspielt nicht nur Reformfähigkeit – sondern auch die eigene Relevanz.

Die verdrängte Verantwortung – Wenn Politik zur Rhetorik verkommt

Diese gesellschaftliche Entwicklung findet ihren Widerhall in der Politik. Verantwortung wird nicht mehr übernommen, sondern kommuniziert. Der Ernst politischer Entscheidungen wird durch inszenierte Betroffenheit ersetzt. Politiker äußern „tiefe Besorgnis“ – doch handeln nicht. Sie beteuern „volle Solidarität“ – doch verzichten auf Konsequenz.

Der politische Raum verliert damit seine Grundlage: Ernst als Ausdruck von Wirklichkeitsanerkennung. Denn Verantwortung beginnt nicht mit Gefühl, sondern mit Urteil. Und sie endet nicht beim Tweet, sondern in der Tat.

Diese Entkoppelung von Sprache und Realität ist kein Stilproblem – sie ist eine Systemfrage. Denn wenn Ernsthaftigkeit verschwindet, wird das Politische zu einem Raum der Simulation. Und in einer simulierten Welt sind keine tragfähigen Entscheidungen mehr möglich.

Ernst und Freiheit – Eine verdrängte Allianz

Es ist ein Missverständnis der Moderne, Ernst als Gegenspieler der Freiheit zu betrachten. In Wahrheit ist er ihr innerer Zwilling. Ernst bedeutet: Ich nehme die Welt an – mit all ihrer Unverfügbarkeit. Ich respektiere Grenzen, erkenne Bedingungen, handle unter Risiko.

Ohne diesen Ernst bleibt Freiheit bloß Wahlfreiheit. Doch politische Freiheit ist mehr als Konsum oder Meinung. Sie ist gebundene Freiheit – an Geschichte, an Verantwortung, an Zukunft.

Diesen Zusammenhang hat die westliche Welt über Jahrzehnte verdrängt. Der Preis ist hoch: Orientierungslosigkeit, Führungsmüdigkeit, ein überreizter öffentlicher Raum – und die Aushöhlung kollektiver Tragfähigkeit. Wer den Ernst verlernt, verliert nicht nur Tiefe – sondern auch Richtung.

Was jetzt zu tun ist – Eine Kultur der Tragfähigkeit

Was fehlt, ist keine Information – sondern Form. Kein Wissen – sondern Haltung. Kein Konsens – sondern Tiefe. Der Verlust des Ernstes ist kein ästhetisches Problem, sondern ein strategisches. Denn ohne Ernst entsteht kein Vertrauen. Und ohne Vertrauen keine Stabilität.

Europa braucht eine neue politische Kultur – nicht der Dramatisierung, sondern der Verantwortung. Nicht der Simulation, sondern der Entscheidung. Ernst ist der Anfang davon. Nicht als Pose – sondern als innere Disziplin.

Wir benötigen keine Ideologie des Ernstes. Sondern eine Rückkehr zur Fähigkeit, Dinge beim Namen zu nennen, Konsequenzen zu tragen und Verantwortung nicht zu verflüssigen, sondern zu konkretisieren. Nur so entsteht wieder etwas, das Bestand hat.

Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist – MOC Strategic Institute
Berlin / Wien, im Juni 2025

Schreibe einen Kommentar