Manufactured Insecurity!

Lesedauer 5 Min.

Europa im Zeitalter der gesteuerten Bedrohung

(Ein Beitrag zur Dekonstruktion aktueller Bedrohungsnarrative, zu den Mechanismen sicherheitspolitischer Steuerung und zur Frage, wie Angst als strategische Ressource genutzt wird.)

Autor: Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist
Geopolitical Economy & Geopolitical Science
Berlin / Stuttgart im Oktober 2025

1. Einleitung – Die Inszenierung der Bedrohung

Europa erlebt derzeit eine Häufung von Drohnenmeldungen: über Polen, Finnland, Dänemark und nun Deutschland.

Auffällig ist weniger das Objekt am Himmel als das Narrativ am Boden. Kaum wird ein Flugobjekt gesichtet, folgt schon die reflexhafte Zuschreibung: Russland. Belege oder Beweise bleiben aus.

Diese Kommunikationskette ist kein Zufall, sie ist ein Mechanismus!

Sie verwandelt Unsicherheit in Aufmerksamkeit, Angst in Anschlussfähigkeit und bereitet politisches Terrain vor.

Denn in einer Zeit, in der Sicherheit zur Währung politischer Glaubwürdigkeit geworden ist, wird Unsicherheit selbst zum Werkzeug der Macht.

Nicht die Drohne bedroht die Gesellschaft, sondern die Geschichte, die über sie erzählt wird.

2. Das Muster: Ereignis – Attribution – Agenda

Die Sequenz wiederholt sich fast mechanisch:
Ein unidentifiziertes Objekt wird gemeldet → Medien emotionalisieren → politische Reaktionen folgen → Budgets steigen.

Dieses Muster erinnert an dienstzeitliche Agitationsstrategien des Kalten Krieges, in denen Bedrohungen gezielt zur Kohäsion, Mobilisierung und Ressourcenlenkung eingesetzt wurden.
Heute wirken diese Mechanismen digitalisiert weiter durch Krisenkommunikation, soziale Medien und Sicherheitsrhetorik.

Besonders deutlich zeigte sich das am 5. Oktober, als Bundeskanzler Friedrich Merz gegenüber Medien erklärte, er vermute, dass Russland hinter den Überflügen stehe.

Diese Formulierung ersetzt Beweis durch Annahme.

Und so stellt sich die sachliche Frage:

Wenn ein Regierungschef Deutschlands mit direktem Zugang zu sicherheitsdienstlichen Informationen öffentlich sagt, er vermute, kommuniziert er dann Wissen oder Vermutung?

Solche Äußerungen schaffen weniger Sicherheit als vielmehr Unsicherheit, und genau diese emotionale Bewegung scheint Teil des Mechanismus zu sein.

3. Die fehlende Plausibilität der Zuschreibung

Strategisch betrachtet wäre ein solcher Akt für Russland irrational.

Ein Staat, der über Hyperschalltechnologie, Satellitenaufklärung und hochentwickelte Drohnensysteme verfügt, müsste keine sichtbaren, unidentifizierten Geräte über europäischen Städten einsetzen, um Reaktionen zu testen.

Demgegenüber gibt es Akteure, die von der Zuschreibung profitieren:

  • Staaten, die militärische Unterstützung oder politische Solidarität sichern wollen,
  • Regierungen, die innenpolitisch Aufrüstung und Verteidigungsausgaben legitimieren müssen,
  • transatlantische Netzwerke, die ein konsistentes Bedrohungsnarrativ zur Stabilisierung gemeinsamer Interessen benötigen.

Das eigentliche Testfeld ist nicht der Himmel, sondern die gesellschaftliche Reaktionsarchitektur. Es geht weniger um Lufthoheit als um eine Narrativhoheit.

4. Die Rolle der Satellitenaufklärung – das Wissen hinter dem Schweigen

Hier beginnt die Diskrepanz zwischen technischer Realität und öffentlicher Darstellung. Europa und die USA verfügen über nahezu lückenlose Überwachungskapazitäten:

  • SAR-Radarsysteme erkennen Objekte bei Nacht und Bewölkung,
  • SIGINT-Netze orten Funkfrequenzen selbst kleinster Drohnen,
  • NORAD und das EU-SST-Programm überwachen dauerhaft sämtliche Flugbewegungen.

Dass ausgerechnet bei diesen Vorfällen keine Beweise vorliegen sollen, ist technologisch unplausibel.

Daraus ergeben sich nur zwei Möglichkeiten:

  1. Die Vorfälle sind kommunikative Konstruktionen, die als reale Bedrohung inszeniert werden.
  2. Die Daten existieren, werden aber bewusst nicht veröffentlicht, um das Bedrohungsnarrativ flexibel zu halten.

Wenn wir aus dem Orbit tennisballgroße Objekte erkennen und in Kriegsgebieten Panzer zählen können, wie glaubwürdig ist dann das Schweigen über Drohnen über europäischen Städten?

5. Manufactured Insecurity – Die Architektur der Angst

Das gegenwärtige Steuerungsmuster folgt dem Prinzip der hergestellten Unsicherheit (Manufactured Insecurity). Unsicherheit wird nicht mehr bekämpft, sie wird produziert, um Zustimmung zu erzeugen.

Die auffällige Gleichzeitigkeit der Drohnenmeldungen, von Skandinavien bis Bayern, deutet auf ein orchestriertes Kommunikationssystem hin.

Strukturen wie das NATO StratCom Centre of Excellence oder das Hybrid CoE in Helsinki koordinieren seit Jahren Narrative über „hybride Angriffe“.

Diese Synchronizität schafft ein Gefühl permanenter Bedrohung, eine emotionale Infrastruktur, die politische Handlungsfähigkeit simuliert.

Die Medien verstärken diesen Effekt in einem Dreischritt:

  1. Zuspitzung – Angst erzeugen.
  2. Wiederholung – Präsenz sichern.
  3. Verflachung – Schweigen, sobald Beweise fehlen.

Zurück bleibt die emotionale Spur: ein dauerhaft erhöhtes Sicherheitsgefühl, nicht durch Wissen, sondern durch Furcht.

Wer Unsicherheit erzeugt, kontrolliert Reaktionen.
Wer Angst kanalisiert, kontrolliert Zustimmung.

6. Systemische Schlussfolgerung – Der Übergang zur inneren Steuerung

Die Drohne ist einSymbol! Das eigentliche Steuerungsmomentum liegt in der Instrumentalisierung des Sicherheitsdiskurses.

Was als Verteidigungslogik erscheint, ist längst eine Sozialtechnik der Führung:

  • Kontrolle über Narrative,
  • Lenkung über Angst,
  • Legitimation über vermeintliche Bedrohung.

So verlagert sich Sicherheitspolitik von der äußeren Abschreckung zur inneren Konditionierung.

Wie viel Sicherheit entsteht, wenn sie auf Angst gebaut ist?
Und wie viel Vertrauen bleibt, wenn Regierungen auf Vermutungen regieren?

7. Fiskalpolitische Rückkopplung – Schulden, Aufrüstung, Kontrollmoment

Europa befindet sich in einer zweifachen strukturellen Schieflage: hohe Verschuldung einerseits, ausbleibende Reformen andererseits.

In dieser Lage ist die Versuchung groß, Handlungsfähigkeit nicht über Strukturpolitik, sondern über Sicherheitsrhetorik zu demonstrieren.

So entsteht eine politische Rückkopplung:

  • Schulden erfordern Rechtfertigung,
  • Rechtfertigung erzeugt Bedarf,
  • Bedarf legitimiert neue Ausgaben, vorzugsweise für Verteidigung.

Militärausgaben lassen sich leichter kommunizieren als Strukturreformen!

Sie versprechen Schutz statt Verzicht. Bedrohung ersetzt ökonomische Redlichkeit, und Aufrüstung wird zur Stellvertreterhandlung einer Politik, die im Inneren keine Reformkraft mehr entfaltet.

Diese Mechanik ist nicht neu, sie wiederholt sich, wenn Sicherheitspolitik zum Ersatzinstrument für wirtschaftliche Sanierung wird.

Das Resultat: steigende Ausgaben, sinkende Transparenz und eine Bevölkerung, die über Angst in Zustimmung geführt wird.

Sicherheit wird dann nicht mehr geschaffen, sondern verkauft!

8. Gegensteuerung – Transparenz, Forensik, demokratische Sicherungen

Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, braucht es ein neues System der öffentlichen Nachvollziehbarkeit und demokratischen Kontrolle.

  1. Unabhängige forensische Prüfung:
    Einrichtung eines paritätisch besetzten Expertengremiums (Satellitentechnik, Luftfahrt, Nachrichtendienst-Forensik), das Vorfälle binnen 30 Tagen überprüft und Ergebnisse veröffentlicht oder begründet zurückhält.

  2. Transparenz über verfügbare Aufklärungsdaten:
    Regierungsstellen müssen deklarieren, ob Daten existieren, in Prüfung sind oder bewusst zurückgehalten werden. Jede Geheimhaltung bedarf einer dokumentierten Begründung und einer befristeten Fristverlängerung.

  3. Parlamentarische Rapid-Response-Einheit:
    Kleine, fachlich besetzte Ausschusseinheit mit Zugriff auf sicherheitsrelevante Rohdaten zur Vorabprüfung politischer Aussagen und Verhinderung voreiliger Zuschreibungen.

  4. Standardisierte Kommunikationspflicht:
    Einführung eines verpflichtenden Rahmens in Krisenkommunikation: gesichert, plausibel, unbestätigt. Keine öffentlichen Zuschreibungen ohne dokumentierte Quellenlage.

  5. Fiskalische Transparenz:
    Jede sicherheitspolitische Ausgabe, die auf nicht belegte Vorfälle folgt, bedarf einer ex-post-Prüfung durch Rechnungshof oder unabhängige Auditstelle.

  6. Zivilgesellschaftliche Resilienz:
    Ausbau von Medienkompetenz, unabhängigen Faktenprüfstellen und Bildungsinitiativen, um die Bevölkerung zu befähigen, zwischen Nachricht, Kommentar und Hypothese zu unterscheiden.

Diese Maßnahmen schützen nicht nur vor Manipulation, sondern stärken das Vertrauen in die staatliche Kommunikation selbst.

9. Ausblick – Das Jahr 2026 und die Architektur der nächsten Phase

Wenn sich die Muster fortsetzen, wird 2026 kein Jahr der Beruhigung, sondern der Verfestigung dieser Logik.

Aus Angst entsteht Bereitwilligkeit, aus Bereitwilligkeit Macht!

Bereits sichtbar sind:

  1. Institutionalisierte Ausnahmezustände – temporäre Maßnahmen werden Dauerrecht.
  2. Fiskalische Militarisierung – Verteidigung als konjunkturelles Zugpferd.
  3. Normative Verschiebung – Kritik an Sicherheitsnarrativen gilt als Illoyalität.
  4. Kommunikative Zentralisierung – Informationssteuerung als Agenda-Management.

Damit droht der Übergang von einer reaktiven Sicherheitsunion zu einer präemptiven Kontrollgemeinschaft. Stabil nach außen, aber fragil nach innen.

Der Kipppunkt liegt nicht im Luftraum, sondern im Verhältnis zwischen Bürger und Staat.

Wenn Sicherheitsversprechen auf Angst bauen und Bedrohungen auch konstruiert werden können, entsteht eine neue Form politischer Abhängigkeit.

Doch jede Steuerung trägt ihre Gegenbewegung in sich:
Erkennt die Bevölkerung das Muster, wandelt sich Angst in Skepsis, Skepsis in Widerstand und Widerstand in Erneuerung.

2026 wird damit zur Bewährungsprobe:
ob Europa noch zwischen Sicherheit und Freiheit unterscheiden kann und ob Politik den Mut findet, Wahrhaftigkeit über Wirksamkeit zu stellen.

Endfazit

Die Drohnen am Himmel sind Metapher und Menetekel zugleich.

Sie zeigen, wie leicht Gesellschaften steuerbar werden, wenn Kommunikation zur Waffe wird, aber auch, wie stark sie sein könnten, würden sie Aufklärung wieder zum Maßstab machen.

Das wahre Steuerungsmomentum entscheidet sich nicht im militärischen, sondern im moralischen Luftraum unserer Zeit.

Dort wird 2026 die Richtungsentscheidung fallen.

Am Ende steht kein Alarmismus, sondern ein Appell zur Rationalität:
– Wer Sicherheit ernst nimmt, muss Wahrheit zulassen.
– Wer Angst steuert, verliert Vertrauen.

Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist

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