„Hat Deutschland ein Identitätsproblem?“
Autor: Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist
Berlin / Stuttgart 2025
Ein kleiner Ort in Nordrhein-Westfalen wurde in diesen Tagen zum Symbol einer viel größeren Frage:
In Nachrodt-Wiblingwerde tauchten über Nacht rund vierzig Deutschlandfahnen auf, an Laternen, Gebäuden und Masten. Dazu ein Schild mit der Aufschrift: „Nationalstolz ist kein Verbrechen.“
Was zunächst nach einem stillen Zeichen bürgerlicher Identifikation klang, wurde rasch zum Fall für den Staatsschutz. Der Staatsschutz / die Staatsanwaltschaft prüft, ob das Anbringen der Fahnen möglicherweise strafrechtlich relevant sei.
Damit geschieht etwas, das weit über diesen Ort hinausweist:
Ein Staat, der sich gerade anschickt, eine Armee aufzubauen, um wehrfähig zu sein, verfolgt gleichzeitig das Hissen seiner eigenen Fahne als potenzielle Straftat.
Diese Konstellation stellt die eigentliche Frage:
Für welches Land wird hier eigentlich die Wehrhaftigkeit geprobt, wenn seine Symbole schon als Verdacht behandelt werden?
1. Juristische Ebene – Die verfassungsrechtliche Neutralität des Symbols
Artikel 22 des Grundgesetzes legt klar fest: „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.“
Sie ist kein Parteizeichen, keine Parole, sondern das Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland, Ausdruck staatlicher Kontinuität und Identität.
Solange keine extremistische oder verfassungsfeindliche Absicht nachweisbar ist, ist das Zeigen der Fahne nicht strafbar.
Die Ermittlungen gegen ein solches Symbol ohne jeden aggressiven Kontext wirken daher wie ein Verlust juristischer Orientierung:
Wo der Rechtsstaat beginnt, seine eigenen Grundlagen als potenziell verdächtig zu behandeln, verschiebt sich das Verhältnis von Norm und Vertrauen.
2. Politische Ebene – Wenn Staatsbewusstsein zur Ausnahme wird
Politisch offenbart der Fall eine Paradoxie:
Während Kanzler und Verteidigungsministerium von „neuer Wehrhaftigkeit“ sprechen, wird das sichtbarste Zeichen dieser Wehrhaftigkeit – die eigene Flagge – mit Argwohn betrachtet.
Ein Land, das seine Symbole nur noch unter Vorbehalt duldet, ringt nicht mit Radikalismus, sondern mit Selbstverlust.
Denn Wehrfähigkeit ist keine technische Kategorie, sondern eine Haltung. Sie beginnt nicht mit Panzern, sondern mit dem Bewusstsein, dass ein Staat seine Existenz nicht entschuldigt, sondern begründet.
Diese Selbstentfremdung hat eine längere Geschichte:
Bereits 2013, auf der Wahlparty der CDU nach der Bundestagswahl, nahm die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel dem damaligen Gesundheitsminister Hermann Gröhe eine Deutschlandflagge aus der Hand und legte sie demonstrativ beiseite, eine Szene, die damals viele irritierte.
Diese symbolische Geste markierte mehr als nur einen Moment der Distanz, sie steht rückblickend für eine Haltung, die nationale Symbolik als Peinlichkeit empfand.
Die Reaktion von Nachrodt-Wiblingwerde ist damit kein Zufall, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Echos auf jahrelange politische Entkopplung zwischen Staat und Symbol.
3. Psychologische Ebene – Zwischen Identitätsverlust und moralischer Selbstzensur
Die Botschaft „Nationalstolz ist kein Verbrechen“ wirkt ruhig, fast sachlich und entfaltet gerade dadurch ihre Sprengkraft. Denn sie zeigt ein kollektives Unbehagen: Die Angst, dass jedes sichtbare Bekenntnis zur Nation als Verdacht gilt.
Diese moralische Selbstzensur ist kein Zufall, sondern das Ergebnis jahrzehntelanger Konditionierung, einer Kultur, die Verantwortung mit Selbstentwertung verwechselt.
Ein Staat, der seine Symbole psychologisch neutralisieren will, verliert jene emotionale Bindungsenergie, die ihn im Ernstfall trägt.
Eine Armee kann man befehlen.
Aber Loyalität und Identifikation, lassen sich nicht dekretieren.
4. Strategische Ebene – Staatliche Rationalität versus symbolische Verwirrung
Strategisch steht Deutschland vor einem Widerspruch:
Kann ein Staat, der seine eigenen Symbole nicht mehr selbstverständlich tragen lässt, überhaupt eine glaubwürdige Verteidigung organisieren?
Militärische Strukturen ohne kulturelle Verankerung bleiben leere Formen. Eine Armee, die nicht weiß, wofür sie steht, verteidigt nicht mehr die Republik, sondern deren Administration.
Die Fahnenaktion von Nachrodt-Wiblingwerde ist in diesem Sinn kein Zwischenfall, sondern ein Symptomtest: Sie misst, wie viel staatliche Selbstgewissheit im öffentlichen Raum überhaupt noch existiert.
5. Zivilisatorische Tiefenstruktur – Der Staat als Akteur seiner eigenen Verunsicherung
Hier berührt das Phänomen seine tiefste Schicht: Die Entfremdung des Staates von seiner eigenen Symbolik.
Ein Staat, der seine Hoheitszeichen nicht mehr als Ausdruck seiner Legitimität versteht, sondern als potenzielle Gefährdung seiner Ordnung, beginnt, sich selbst zu misstrauen.
Das verweist auf drei Grundfragen:
- Die soziologische Frage:
Wie stark ist das Vertrauen der Bürger in Institutionen, die ihre eigenen Symbole nur noch als Risiko kommunizieren? - Die staatsrechtliche Frage:
Ab wann wird die Verteidigung des Rechtsstaats zur Simulation, wenn er seine Symbole selbst kriminalisiert? - Die zivilisatorische Frage:
Kann eine Demokratie überleben, die Patriotismus nicht integriert, sondern pathologisiert?
Die Bundesrepublik zeigt in diesem Fall nicht Schwäche im Vollzug, sondern eine Überdehnung im Selbstbild:
Sie verwechselt moralische Sensibilität mit staatlicher Neutralität und verliert dabei die semantische Mitte zwischen Demokratie und Selbstauflösung.
Systemische Reflexion – Der semantische Erosionspunkt
Deutschland steht stellvertretend für viele westliche Demokratien, in denen staatliche Identität und gesellschaftliche Selbstwahrnehmung auseinanderdriften. Die institutionelle Sprache wird immer abstrakter, die kulturelle Bindung immer schwächer, die emotionale Identifikation immer riskanter.
Doch ein Staat, der seine Flagge nur noch als Risiko und nicht mehr als Verpflichtung begreift, verliert den inneren Bezugspunkt seines Handelns.
Wehrhaftigkeit ohne Selbstbewusstsein ist wie ein Schild ohne Zeichen, funktional, aber bedeutungslos.
Die Ereignisse von Nachrodt-Wiblingwerde sind daher kein Kuriosum, sondern ein Signal:
Wenn der Staat sich selbst misstraut, bevor er andere verteidigt, ist das eigentliche Sicherheitsproblem längst nicht mehr militärisch, sondern zivilisatorisch-kulturell.
Thomas H. Stütz
Chief Global Strategist
Quellen:
- „Staatsschutz ermittelt nach Flaggen-Aktion in Nachrodt-Wiblingwerde“, come-on.de, 27.10.2025 – https://www.come-on.de/lennetal/nachrodt-wiblingwerde/flaggen-aktion-in-nachrodt-wiblingwerde-staatsschutz-ermittelt-nach-93995675.html
- „Nationalstolz: Wenn plötzlich Dutzende Deutschland-Flaggen in einer Gemeinde wehen“, Die Welt, Oktober 2025 – https://www.welt.de/politik/deutschland/plus68f9dc5b59e2e09750708f19/nationalstolz-wenn-ploetzlich-dutzende-deutschland-flaggen-in-einer-gemeinde-wehen.html
- „Aktion Flagge hissen sorgt für Entsetzen in Nachrodt-Wiblingwerde“, LokalDirekt, Oktober 2025 – https://lokaldirekt.de/news/aktion-flagge-hissen-sorgt-fuer-entsetzen-in-nachrodt-wiblingwerde
- „Politiker-Videos: Wenn Bilder täuschen“, Süddeutsche Zeitung, 2016 – https://www.sueddeutsche.de/politik/politiker-videos-wenn-bilder-taeuschen-1.3293415
- Peter Tauber: „Wir machen uns den Staat nicht zur Beute“, Blog, 2016 – https://blog.petertauber.de/?p=3044